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Was Aus­zu­bil­den­de krank macht

10.07.2017

Die Zahl psychischer Erkrankungen bei den Jüngsten in der Arbeitswelt nimmt alarmierende Ausmaße an, wie Daten einer gesetzlichen Krankenkasse belegen.

(verpd) Auszubildende sind zwar häufiger, aber dafür kürzer krankgeschrieben als ihre älteren Kollegen. Das geht aus den Krankheitsdaten einer gesetzlichen Krankenversicherung hervor. Beunruhigend ist insbesondere die zunehmende Zahl der psychischen Erkrankungen bei den jungen Arbeitnehmern, die sich seit dem Jahr 2000 nahezu verdoppelt hat.

Die Techniker Krankenkasse (TK), ein Träger der gesetzlichen Krankenversicherung, hat vor Kurzem einen Gesundheitsreport, der unter anderem die Krankheitsdaten bestimmter Personengruppen analysierte, vorgelegt. Für die aktuelle Auflage der jährlich erscheinenden Publikation wurden 4,8 Millionen Daten der 2016 sozialversicherungs-pflichtigen Mitglieder der Krankenkasse ausgewertet.

Insbesondere wurde die junge Gruppe der Auszubildenden und deren Krankheitsbiografien genauer betrachtet. Hierfür wurden die Krankheitsdaten von 187.000 TK-Versicherten im Alter von 16 bis 25 Jahren ausgewertet.

Jüngere sind häufiger, aber kürzer krankgeschrieben

Im Report zeigte sich, Auszubildenden waren im Durchschnitt insgesamt „nur“ 11,5 Tage, ab 25-jährige Berufstätige jedoch 14,8 Tage pro Jahr krankgeschrieben. „Man sollte ja eigentlich meinen, dass die jungen Leute alle gesund sind“, erläuterte TK-Vorstandsvorsitzender Dr. Jens Baas. Dem sei jedoch oft nicht so. Die neuen Eindrücke und Aufgaben, die Azubis nach der Schule in der Arbeitswelt bekämen, hätten häufig Auswirkungen auf ihre Gesundheit.

„Wir haben bei der Untersuchung der Daten beunruhigende Ergebnisse vorgefunden“, so der TK-Chef. „Die Zahl der Krankschreibungen wegen psychischer Störungen bei Azubis hat sich seit dem Jahr 2000 verdoppelt.“ Nach Infekten und Verletzungen seien psychische Gründe auf Platz drei der häufigsten Arbeitsunfähigkeits-(AU)-Gründe bei Lehrlingen.

Zwar sei die reale Zahl der Krankheitstage wegen psychischer Störungen geringer als bei den Beschäftigten insgesamt, der Anstieg sei jedoch alarmierend. „Durchschnittlich wird jeder Auszubildende in Deutschland 1,33 Tage aufgrund von psychischen Symptomen krankgeschrieben“, sagte Dr. Thomas Grobe von der Aqua-Institut für angewandte Qualitätsförderung und Forschung im Gesundheitswesen GmbH, der an der Fertigung der Studie beteiligt war.

Zehn Tage Psychopharmaka für die Azubis

Einen ähnlich beunruhigenden Anstieg verzeichneten die Autoren bei der Verschreibung von Medikamenten. Nach der Antibabypille, die aufgrund der Kostenübernahme durch die Krankenkassen bis zum 20. Geburtstag das am häufigsten verordnete Medikament ist, und Antibiotika sind Psychopharmaka die am dritthäufigsten verschriebenen Arzneimittel bei Azubis.

„Im Durchschnitt werden jedem Lehrling jährlich zehn Tage Psychopharmaka verordnet“, erläuterte Grobe. Darunter seien vorrangig Antidepressiva und Psychostimulanzien wie Ritalin, das Patienten mit einem Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS) verschrieben wird.

Der Anstieg psychischer Störungen ist nach Einschätzung von Dr. Volker Busch, Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie am Lehrstuhl der Universität Regensburg, auf mehrere Ursachen zurückzuführen. Arbeit nach Vorschrift und wenig eigene Gestaltungsmöglichkeit schlügen auf das Gemüt. „Das gilt aber nicht nur für Azubis, sondern für die Arbeitswelt im Allgemeinen“, verdeutlicht er.

Digitale Welt kann krank machen

Zum anderen seien Beschäftigte selbst schuld daran. „In der digitalen Welt, in der wir leben, wollen wir allem gerecht werden. Wir wollen effektiv leben, möglichst perfekte Leistungen am Arbeitsplatz erbringen und privat nichts verpassen“, so Dr. Busch weiter. Besonders die Generation der „Digital Natives“ verspüre den Drang, ständig online zu sein, da sie sonst etwas verpassen würde – und das nehme viel Zeit in Anspruch.

Durchschnittlich verbringe jeder Jugendliche drei Stunden privat im Internet. „Kommen dann noch mal acht Stunden bei der Arbeit dazu, heißt das, dass die Jugend fast den halben Tag vor einem Bildschirm verbringt“, verdeutlichte Busch.

Junge Menschen würden sich selbst so unter Druck setzen, ständig allem und jedem gerecht zu werden, dass sie nicht mehr wüssten, wie sie zu Ruhe kommen sollen. „Hinzu kommt, dass sie wenig schlafen, kaum Sport treiben, häufig rauchen und regelmäßig Alkohol trinken. Sie haben verlernt, was es heißt, Selbstfürsorge zu betreiben“, mahnte er an.

Dauerhafter oder kurzzeitiger Stress?

Dennoch weiß der Mediziner, dass die statistischen Daten zu psychischen Erkranken oft verwässert sind. Es gingen immer mehr Menschen mit Stresssymptomen zum Arzt, weil solche Erkrankungen mehr und mehr gesellschaftlich akzeptiert würden. Dementsprechend würden auch häufiger derartige Diagnosen gestellt. „Ob wirklich alle, die mit psychischen Störungen zum Arzt gehen, wirklich unter dauerhaftem Stress leiden, oder die Umstände kurzfristig zu einer Überbelastung führen, ist schwer zu sagen“, erklärt Dr. Busch.

Gleiches gilt für die Verschreibung von Ritalin. 20 Prozent aller Einnahmen dieses Medikaments würden nicht erfolgen, um ADHS-Patienten zur Ruhe zu bringen, sondern um Gesunde leistungsfähiger zu machen. Die eher kurze Dauer, die Azubis im Vergleich zu älteren Kollegen wegen psychischer Störungen krankgeschrieben werden, deute eher auf eine kurzfristige Überlastung und keinen Dauerzustand hin, vermutet Busch.

TK-Chef Baas warnt aber, die Schuld für den Stress bei Azubis nur auf die Digitalisierung zu schieben. Sie biete der Arbeitswelt viele neue Möglichkeiten. Man müsse versuchen, die neuen Umstände in bestehende Unternehmens- und Führungsstrukturen zu integrieren. „Junge Menschen wollen nicht nach Schema F arbeiten, sie wollen Prozesse mitbestimmen können“, erläuterte Baas. Dürfen junge Beschäftigte Arbeitsprozesse mitgestalten, würden sie sich wertgeschätzt fühlen – und das reduziere negativen Stress.

Infos für Arbeitgeber und Arbeitnehmer

Das Deutsche Netzwerk für betriebliche Gesundheitsförderung (DNBGF) beschäftigt sich mit der betrieblichen Gesundheitsförderung. Der Webauftritt des DNBGF enthält neben den Rechtsgrundlagen und Hintergrund-Informationen zum Thema auch diverse Broschüren.

Unter anderem kann hier der kostenlose 92-seitige Ratgeber „Psychisch krank im Job – Verstehen. Vorbeugen. Erkennen. Bewältigen.“ des Dachverbandes der Betrieblichen Krankenkassen (BKK Dachverband) heruntergeladen werden.

Umfangreiche Informationen von den Symptomen bis zur Behandlung von Schlafstörungen, Depressionen bis hin zum Burnout stehen im Internetauftritt des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG). Unter anderem widmet sich ein spezielles Kapitel den „Depressionen bei Kindern und Jugendlichen“.

Quelle: VersicherungsJournal Verlag GmbH

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