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Schwierige Klä­rung der Haf­tungs­fra­ge bei Kfz-Un­fall

30.08.2016

Telefoniert ein Autofahrer mit dem Handy oder legt er seinen Gurt nicht an, kennen Gerichte kein Pardon. Haben zwei Unfallbeteiligte zugleich falsch gehandelt, wird es kompliziert. Folge 74 von „Testen Sie Ihr Versicherungswissen“.

Wie es mit der Haftung aussieht, wenn beide Unfallbeteiligten gegen Verkehrsvorschriften verstoßen, klärt Folge 74 der VersicherungsJournal-Serie „Testen Sie Ihr Versicherungswissen“. Die offizielle DIHK-Prüfungsaufgabe wurde angehenden Versicherungsfachwirten aus dem Fach „Vermögensversicherungen für private und gewerbliche Kunden – Schaden- und Leistungsmanagement“ gestellt.

Bild: Nikolae, Fotolia.com / VersicherungsJournal
(Bild: Nikolae, Fotolia.com / Pieloth)

Die Anschnallpflicht gemäß § 21a StVO gilt selbst bei kurzfristigen, verkehrsbedingten Stopps, zu denen auch das Anhalten vor Ampeln zählt.

Das hat der Bundesgerichtshof schon im Jahr 2000 entschieden und immer wieder bestätigt.

Beidseitiger Verstoß

Wie aber ist die Haftungssituation, wenn ein Unfallbeteiligter diese Pflicht missachtet hat, und der andere wegen Handybenutzung zu schnell gefahren ist?

Dass dies ein durchaus kniffliger Fall ist, zeigt die Antwort auf eine offizielle Prüfungsfrage des Deutscher Industrie- und Handelskammertag e.V. (DIHK) für angehende Versicherungsfachwirte mit Wahlfach Vermögensversicherungen.

Ausgangssituation – Eine Großbäckerei mit eigenen Auslieferungsfahrern

Die BAKK GmbH ist eine Großbäckerei. Neben der Produktion von Backwaren und der Belieferung von Großmärkten hat das Unternehmen auch 15 eigene Filialen, in denen die eigenen Produkte verkauft werden. Die GmbH besitzt einen Fuhrpark von fünf Pkw, 15 Lieferwagen und zwölf Lkw.

Des Weiteren besitzt die GmbH auf dem Gelände der Produktionsstätte ein großes Verwaltungsgebäude, in dem sowohl Räume für den eigenen Bürobetrieb genutzt werden, als auch anderen Firmen Büroräume zur Verfügung gestellt werden. Mit diesen Firmen hat die GmbH jeweils Mietverträge vereinbart. Insgesamt sind 50 Prozent der Gesamtfläche des Bürogebäudes vermietet.

60 Personen werden in der Produktion und zehn Mitarbeiter im Büro beschäftigt. Weitere 30 Mitarbeiter sind in den einzelnen Filialen angestellt.

Aufgabe – Die Haftungssituation erklären

Sie sind in der Abteilung Kraftfahrt-Schaden der Proximus Versicherung AG als Sachbearbeiter für leichte und mittelschwere Personenschäden zuständig.

Herr Kunze, ein Auslieferungsfahrer der BAKK GmbH, befuhr die innerstädtische Einkaufsstraße, in der reger Lieferverkehr herrschte, mit weniger als der zugelassenen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h. Herr Müller, der ebenfalls bei der Proximus Versicherung AG versichert ist, geriet mit einer Geschwindigkeit von nachgewiesenen 70 km/h auf die Gegenfahrbahn, weil er mit seinem Handy beschäftigt war. Es kam zu einem Unfall.

Herr Kunze wurde schwer verletzt. Er war nicht angeschnallt, weil er dieses für die kurze Fahrstrecke zwischen zwei Filialen nicht für erforderlich gehalten hatte.

  • a) Nehmen Sie zur Haftung des Herrn Müller trotz Missachtung der Anschnallpflicht seitens des Herrn Kunze Stellung.
  • b) Erläutern Sie, welche Fallgestaltung neben der überhöhten Geschwindigkeit noch infrage kommen könnte, um zu einem ähnlichen Prüfungsergebnis wie unter a) zu gelangen.

Lösungshinweise

Fachwissen aus dem Bereich „Sachversicherungen für private und gewerbliche Kunden“

Aufgabe

Lösung

Quelle: Schriftliche Prüfung zum „Geprüfte/-r Fachwirt/-in für Versicherungen und Finanzen“, Frühjahr 2014, Handlungsbereich „Vermögensversicherungen für private und gewerbliche Kunden – Schaden- und Leistungsmanagement“.

© DIHK-Gesellschaft für berufliche Bildung – Organisation zur Förderung der IHK-Weiterbildung mbH, Bonn. Die komplette Prüfung ist abgedruckt in „Aufgaben/ Lösungsvorschläge“.

a)

Einen Fahrzeuginsassen, der den vorgeschriebenen Sicherheitsgurt nicht anlegt, trifft grundsätzlich ein Mitverschulden an seinen Verletzungen, die er infolge der Nichtanlegung des Gurtes erlitten hat. Davon ausgenommen sind Fallgestaltungen, in denen eine Gurtanlegepflicht nicht besteht. Das war hier nicht der Fall.

Im Rahmen der Gewichtung des Mitverschuldens ist eine Abwägung vorzunehmen, die in besonderen Fallgestaltungen dazu führen kann, dass einer der Beteiligten trotzdem allein für den Schaden aufkommen muss.

Im vorliegenden Fall ist der Verursachungs- und Verschuldensbeitrag des Herrn Müller als außergewöhnlich hoch zu bewerten. Der Unfallbeitrag des geschädigten Herrn Kunze ist im Vergleich dazu als sehr gering anzusehen. Herr Kunze, als Fahrer des Lieferwagens, musste nicht damit rechnen, dass ein Pkw mit stark überhöhter Geschwindigkeit in den Gegenverkehr fahren könnte. Das Mitverschulden des Herrn Kunze wegen seines Verstoßes gegen die Anschnallpflicht wird durch das schuldhafte und grob verkehrswidrige Verhalten des Herrn Müller vollständig verdrängt.

Hinweis: Eine andere Auffassung ist möglich, sollte aber begründet sein.

b)

Wenn ein Fahrzeuglenker infolge des Genusses alkoholischer Getränke absolut fahruntüchtig gewesen ist und einen Unfall verursacht, kann dieses ebenfalls dazu führen, das eventuelle Mitverschulden des anderen Verkehrsteilnehmers völlig zu verdrängen. Das gilt insbesondere bei absoluter Fahruntüchtigkeit (ab 1,1 Promille).

Hinweis: Auch andere vergleichbare Fallgestaltungen sind zu akzeptieren, zum Beispiel Fahren unter Einfluss von Drogen.

Frühere Beiträge aus dieser Artikelserie finden sich im Archiv des VersicherungsJournals unter diesem Link.

Quelle: VersicherungsJournal Verlag GmbH

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